LESEPROBE

(Inhaltsverzeichnis und alle grün-markierten "anklickbaren" Kapitel)


von: Martin Pasbrig:
Der persuasive Charakter
des Kommunikationsprozesses.
(pädagogik und hermeneutik, 6)

gata-LogoEitorf: gata 1996



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Inhalt

1   Ausgangspunkte
1.1 Problemstellung
1.2 Grundlegende Annahmen über Kommunikation
1.3 Die Fundamentalstruktur kommunikativen Handelns
1.4 Klassifizierung der persuasiven Phänomene
2    Der Kommunikationsprozeß
2.1 Vorurteile und Vor-Urteil
2.2 Der Zeichenprozeß
2.3 Das Eindrucksmodell
2.4 Das Konzept der indivduellen Welttheorie
3    Struktur und Bedingungen von Persuasion
3.1 Die persuasive Handlung
3.2 Vertrauen
3.3 Täuschungen
4    Persuasive Mittel, Pläne und Methoden
4.1 Sprachliche Phänomene des Zeichenprozesses
4.2 Logik, Rhetorik und Argumentation
4.3 Die dialektische Eristik von Schopenhauer
4.4 Die Kommunikationsguerilla
5    Die Grenzen des Überzeugens
5.1 Die Unmöglichkeit der idealen Sprechsituation
5.2 Die sophistische Rhetorik
5.3 Überzeugen oder Überreden
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
 


1  Ausgangspunkte

1.1 Problemstellung

Kommunikation ist eines der großen Modewörter der Gegenwart. Angesichts expandierender Telekommunikation, Gerätekommunikation, Medienkommunikation stellt sich nichtsdestoweniger die Frage ob, wie und wozu Kommunikation funktioniert. Sind es Systeme, Geräte, Menschen oder "Massen", die kommunizieren, oder kommuniziert die Kommunikation etwa mit sich selbst ? Das Problemfeld Kommunikation soll im folgenden eng verbunden mit den Phänomenen von Persuasion erörtert werden. Wenn das Persuasive mit dem Kommunikationsprozeß untrennbar verknüpft ist, dann müssen für eine Erklärung von Kommunikation die Phänomene des Persuasiven erfaßt und deren Stellung und Funktion im kommunikativen Handeln bestimmt werden.

Als Problemlösung wird die Hypothese vertreten, daß Kommunikation stets ein aufeinanderbezogenes, symbolisches Handeln von Menschen ist, die in einem Prozeß stehen, der notwendig immer einen persuasiven Charakter trägt. Außerdem wird jede Kommunikation, die über die Verständigung hinaus einen Zweck verfolgt, als Persuasion aufgefaßt. Potentiell kann auch jedes gegenseitige Verständigen, das Bedingung für die Realisierung der Zwecke ist, persuasiven Absichten dienen. Es soll ferner belegt werden, daß Persuasionen prinzipiell mehr überredende als überzeugende Züge annehmen, und dieses unabhängig von den Intentionen der Kommunikationsteilnehmer. Einen anderen zu überzeugen ist dann der theoretische, der ideale Fall. Überzeugen bleibt die Ausnahme, weil die noch zu erläuternden Voraussetzungen für Überzeugungsprozesse nur selten erfüllt werden.

Die Untersuchungshypothese vom notwendig persuasiven Charakter des Kommunikationsprozesses kann auf zwei Arten gedeutet werden: das Persuasive erscheint zum einen als inhärentes Merkmal und zum anderen als erzeugtes Resultat des ablaufenden Prozesses. Wenn Persuasion als ein Produkt betrachtet wird, stellt sich die Frage nach den Bedingungen, Mitteln und Methoden. Eine vollständige Antwort besteht aus einer Theorie, in der die Faktoren des Persuasionsprozesses durch eine Analyse beschrieben, klassifiziert und schließlich erklärt werden. Eine Wertung oder Abwertung von persuasiven Mitteln bleibt ethischen Betrachtungen vorbehalten, die nicht Bestandteile einer Theoriebildung persuasiver Kommunikation sind. Hier geht es darum, die Bestimmungsstücke einer Theorie herauszustellen, um die aufgestellte Hypothese zu erhärten. Der Persuasionsbegriff wird nachfolgend in Anlehnung an die Konzeption von Ungeheuer  entwickelt und in fortschreitender Analyse noch erweitert. Das Phänomen Persuasion wird nicht aus einer sozialpsychologischen, sondern aus einer  kommunikationstheoretischen Perspektive betrachtet, in der Prozesse statt Objekte im Vordergrund stehen.

Im Gegensatz zu einer behavioristischen oder positivistischen Methode wird für die folgenden Analysen die menschliche Lebenswelt explizit eingeschlossen. Dies impliziert einen phänomenologischen Ansatz, der für Untersuchungen über intentionale Phänomene angezeigt ist, um nicht durch eine rigide Festlegung auf sinnlich Beobachtbares einen Großteil der zugänglichen Erscheinungen auszublenden.

[...]
 

3.2 Vertrauen

Die Asymmetrie des Persuasionsprozesses verlangt vom "Opfer" eine einseitige Haltung: das "Opfer" vertraut, gehorcht oder liebt. Der "Täter" muß in seiner Rolle weder lieben, gehorchen noch vertrauen, er nutzt die Lage des "Opfers" und kennt die Wirkung der persuasiven Mittel. Wenn Zeit, Geduld oder Einsicht fehlen, kann die Begründung durch personales Vertrauen teilweise oder vollständig ersetzt werden:
"Bei Persuasion wird auf Vertrauen gesetzt; Vertrauen des Opfers zum Täter ersetzt beiden einen Teil ihrer H2-Begründung. Dies kann soweit gehen, daß rationale oder quasirationale Begründungsversuche völlig verschwinden und das Opfer nur noch auf sein Vertrauen dem Täter gegenüber zurückgreift, Vertrauen wandelt sich in eine Art Autoritätsgläubigkeit und die Persuasion erhält den Charakter einer Verbalsuggestion." (Ungeheuer 1983c: 18)

Personales Vertrauen ersetzt rationale Einsicht, Wissen und Kompetenz. Nicht nur bei persönlichen Angelegenheiten, sondern auch in Sachfragen muß vertraut werden. Komplizierte wissenschaftliche Methoden und Lösungen werden nur von wenigen tatsächlich verstanden und beherrscht. Der Nichtexperte auf einem Gebiet, und das sind immer nahezu alle Gesellschaftsmitglieder, muß glauben und vertrauen. Sympathie fördert Vertrauen, und doch wird ebenso dem unsympathischen Experten geglaubt: die Vertrauensleistung ist nicht zwingend an sympathische Gefühle gebunden. Der Aufbau der Vertrauensbasis geschieht nach den Vorurteilen der Welttheorie des "Opfers", die der erfolgreiche "Täter" nutzt, um behutsam und systematisch seine Vertrauenswürdigkeit zu entwickeln. Ungeheuer differenziert die Vertrauensbeziehung nach:
"Geltungsbereich, (Vertrauen auf Charakter, Fähigkeiten, Qualität von Handlungen, Funktionstüchtigkeit in Kooperation), Grund (Vertrauen wegen autoritärer Empfehlung, Zugehörigkeit zu einer Gruppe, äußerem Verhalten, Inhalt und Art des Sprechens, Einhaltung von Obligationen), Ziel (Vertrauen, um die gewünschte H2 begründet zu sehen; um gewisse Personen, einschließlich dem Täter, nicht zu verletzen; um Täuschungsmanöver zu entdecken). Man erkennt, daß es sich hierbei um subjektive Kategorien desjenigen Individuums handelt, das Vertrauen aufbringt" (Ungeheuer 1983c: 19).

Unbedingte Sicherheit macht Vertrauen überflüssig. Vertraut wird bei Entscheidungen oder Erwartungen unter Risiko, die unsichere Zukunft wird in der Gegenwart als sicher angenommen. Der Vertrauende muß etwas riskieren, er gibt einen Einsatz, denn er kann enttäuscht werden:
"Vertrauen ist letztlich immer unbegründbar; es kommt durch Überziehen der vorhandenen Information zustande ... Vertrauen bleibt ein Wagnis." (Luhmann 1968: 23 - 24)

Wer vertraut, tut dies aus gutem Grund, denn Mißtrauen belastet, erhöht die Komplexität und verringert die Handlungsmöglichkeiten. Die Bestätigung des Vertrauens ist Routine, wohingegen eine einmalige Enttäuschung das ganze Vertrauen zerstören kann. Nur der alleinige Verdacht, als Vertrauenden getäuscht zu werden, untergräbt das Vertrauen. Vertrauen muß geschenkt und kann nicht erzwungen werden.

Neben dem unmittelbar erfahrenen persönlichen Vertrauen gibt es systembezogenes Vertrauen in gesellschaftliche Größen wie Geld, Banken, Versicherungen, Gesetze, Polizei, Parlament usf. Der Vertrauende erwartet bestimmtes Verhalten oder Handeln, und er erwartet, daß andere etwas erwarten und vertrauen. Die Erwartungserwartung oder wechselseitige Erwartbarkeit ist ein reflexives Prinzip, das Systemvertrauen fundiert und bestätigt. Gegebenes Systemvertrauen reduziert die nicht überschaubare Komplexität der Gegenwart, die der einzelne ansonsten tragen müßte. Luhmann erläutert das Komplexitätsproblem im Rahmen seiner Systemtheorie:
"Für jede Art realer Systeme in der Welt, und seien es physische oder biologische Einheiten, Steine, Pflanzen oder Tiere, ist die Welt übermäßig komplex: Sie enthält mehr Möglichkeiten als die, auf die das System sich erhaltend reagieren kann. Ein System stellt sich auf eine selektiv konstituierte 'Umwelt' ein und zerbricht an etwaigen Diskrepanzen zwischen Umwelt und Welt. Dem Menschen allein wird jedoch die Komplexität der Welt selbst und damit auch die Selektivität seiner Umwelt bewußt und dadurch Bezugsproblem seiner Selbsterhaltung." (Luhmann 1968: 4)

Die internen Prozesse des Organismus modellieren ein Umweltbild mit geringerer Komplexität, als die der Umwelt. Trotzdem hat der Handelnde immer mehr Handlungsoptionen als verwirklicht werden können. Eine Selektion der Möglichkeiten muß stattfinden und findet laufend statt. Vertrauen ist dabei ein wichtiges Mittel, um Komplexität zu verringern und damit Handeln zu ermöglichen. Ohne Systemvertrauen ist eine Gesellschaft der Moderne weder vorstellbar noch funktionsfähig. Unter den Formen des systembezogenen Vertrauens hebt Juchem ein fundamentales Prinzip hervor:
"Das Vertrauen in die Bedingungen der Kommunikation ist ein Systemvertrauen besonderer Art, das eine grundlegende Bedingung der Alltagswirklichkeit darstellt und alle weiteren Ausprägungen des Vertrauens fundiert. Es wird daher in diesem Zusammenhang 'Basisvertrauen' [Hervorh. nicht im Orig.] genannt."
(Juchem 1988: 102  103)

Das Basisvertrauen besteht aus dem unverrückbaren Glauben an gemeinsam geteilte Erfahrungen, Deutungsschemata und Kommunikationsbedingungen. Die Möglichkeit und der Sinn von Kommunikation wird durch das Basisvertrauen hergestellt und begründet. Das Basisvertrauen ermöglicht kommunikatives Handeln in der Alltagswirklichkeit, das einen Kontext herstellt, in dem die Handlungen als Regelhaftigkeiten erscheinen, die daraufhin zu einer Bestätigung des Basisvertrauens führen, das zu weiterem Handeln gemäß des Basisvertrauens führt usw. Ausgehend von einem Axiom wird durch Handeln, das auf diesem Axiom basiert, reflexiv das Axiom bestätigt oder reproduziert. Etwaige Probleme in diesem zirkulären Prozeß werden fehlerhaftem Handeln zugeschrieben und nicht etwa dem postulierten Axiom:
"So ist also das Basisvertrauen als Handlungshintergrund unserer Alltagswirklichkeit weit weniger enttäuschungsanfällig als das auf diesem beruhende personale Vertrauen, da es als Systemvertrauen bei Konfusionen Erklärungen bietet, die es dem Handelnden gestatten, die Ursachen dieser Konfusion als falsche Anwendungen der Regeln des Systems auszuweisen oder den Handelnden selbst in einen Bereich außerhalb des Systems zu 'verrücken' ... Der Bruch des Basisvertrauens ist nur möglich bei Gefahr psychopathischer Existenz. Wer als ego des Handelns diesen Bruch vollzogen hat, stellt sich damit außerhalb dessen, was die Gesellschaft als "normal" bezeichnet. Er wird zum pathologischen Fall." (Juchem 1988: 113)

Das Basisvertrauen sichert die Existenz von fraglos gegebenen Wahrheiten, was für wahr gehalten wird, ist von den Konventionen einer bestimmten Gesellschaft abhängig.
 

3.3 Täuschungen

Verstehen im engeren Sinne ist ausgeschlossen. Verständigung ist möglich, jedoch bei Annäherung an kruziale Kommunikation prinzipiell fallibel. Absichtslose Täuschungen über Gemeintes und Verstandenes sind strukturbedingte Produkte des Kommunikationsprozesses, die dem täuschungsanfälligen Prozeß anhaften. Im Persuasionsprozeß ist überdies nicht nur mit absichtslosen Täuschungen, sondern darüber hinaus auch mit gezielten, beabsichtigten Täuschungsmanövern zu rechnen. Die Entscheidung für eine beabsichtigte Täuschung ist Teil der Persuasionsstrategie des "Täters".

Getäuscht werden können andere oder die eigene Person. Täuschen ist reflexiv: Selbst täuschen kann ein Mensch sich über sich selbst oder über einen anderen. Ein anderer kann mit Absicht oder ohne Absicht getäuscht werden. Diese Unterscheidungen sind noch nicht ausreichend, denn jemand kann sich nach der Auffassung von Ungeheuer auch absichtsvoll über sich selbst oder einen anderen täuschen.  Im weiteren wird der Klassifikation von Ungeheuer nach Absichtlichkeit und Unabsichtlichkeit bei Selbsttäuschungen und Fremdtäuschungen gefolgt, obgleich die Existenz absichtlicher Selbsttäuschungen kontrovers diskutiert werden kann. Intentionale Selbsttäuschungen erscheinen als eine Form von Selbstsuggestion, für die es beispielsweise die Redewendungen "sich  etwas vormachen" oder "sich in die Tasche lügen" gibt.  Das geplante Täuschen von anderen bezweckt einen Vorteil für den Täuscher, Löw-Beer erläutert die Situation des Selbsttäuschers, der sich über sich selbst täuscht:
"Der Selbsttäuscher irrt sich über etwas, das für ihn wichtig ist. Würde er die Einsichten, die er vermeidet, zur Kenntnis nehmen, müßte er sein Selbstverständnis verändern. Hinzu kommt, daß der Selbsttäuscher fähig wäre, diese Fehler zu vermeiden, ja, daß er sogar etwas tut, um den Irrtum nicht aufzuklären: Er lehnt es ab, sich die Gründe klarzumachen, die gegen sein Selbstverständnis sprechen, wählt Selbstinterpretationen, die den Zweck haben, die Angemessenheit des eigenen Selbstverständnisses zu verteidigen (s. Kap. IX, 2.1). Um es zu stützen, sucht er gezielt nach Evidenzen und vermeidet Situationen, die es erschüttern könnten. Damit würde man zu folgender allgemeinen Charakterisierung von Selbsttäuschung gelangen: Sie wäre erstens ein Irrtum über subjektiv Bedeutsames, das das Selbstverständnis der Person in Frage stellt. Sie wäre zweitens ein Irrtum, den die Person vermeiden könnte, wenn sie wollte, aber den sie nicht vermeiden will. Sie wäre schließlich drittens ein Irrtum, für dessen Erhaltung sie etwas tut." (Löw-Beer 1990: 239)

Täuschen kann verbal oder nonverbal geschehen. Da der Kommunikationsprozeß und der Persuasionsprozeß als sprachliches Handeln definiert wurden, wird das Feld nonverbaler Täuschungen nicht weiter behandelt. Fremdtäuschungen sind nur er-
 folgreich und existent, wenn sie nicht erkannt werden:
"Da der Getäuschte nur getäuscht ist, wenn er die Täuschung nicht bemerkt, sobald er sie bemerkt hat, er nicht mehr von der Täuschung betroffen ist, sondern ein Getäuschter nur insofern bleibt, als er weiß, daß er getäuscht wurde, kann Täuschung als Individualhandlung des Täuschenden aufgefaßt werden. Derjenige, der sich von dem Täuschenden täuschen läßt, weiß dies nicht, vielmehr vollzieht er seine kommunikativen Handlungen vertrauensvoll wenn auch, bei entsprechender Lebenserfahrung, wachsam." (Ungeheuer 1983c: 24)

Das Täuschen über etwas impliziert eine Beziehung zwischen etwas Vorgetäuschtem und etwas "Richtigem", Ungeheuer präzisiert die beiden Größen:
"Der Kern kommunikativer Täuschungshandlungen besteht immer in dem Verhältnis zweier Wissens-Inhalte, dem richtigen (Wr) und dem täuschenden (Wt). In dieser Verbindung darf Richtigkeit nicht mit Wahrheit verwechselt werden; welches der richtige Wissensinhalt ist, auf den bezogen der Täuschungsinhalt aufgebaut ist, kann unterschiedlich bestimmt sein ... Wr wird vom Täuscher gewußt, Wt vom Getäuschten als Wissensinhalt aufgrund der äußeren Kommunikationshandlungen des Täuschers hergestellt, die verbale und nonverbale Anstrengungen umfassen." (Ungeheuer 1983c: 24 - 25)
Der Grad der Täuschung ergibt sich aus der Differenz von Wr und Wt, die Negation von Wr als Wt zu vermitteln, ist die extremste Form der Täuschung. Zu beachten ist die Differenz zwischen dem richtigen Wissensinhalt Wr  und einem "wahrem" Wissensinhalt. Was für richtig gehalten wird, schwankt in der vollen Breite von vager Vermutung, von fester subjektiver Überzeugung bis hin zu wissenschaftlich und methodisch begründeten Annahmen. Der richtige Wissensinhalt ist zumeist eben nicht der "wahre" Inhalt, sondern ein Ungefährwissen, das zu einem bestimmten Zeitpunkt aus bewußt oder unbewußt Geglaubtem besteht. Das exakte, methodisch begründete Wissen macht nur einen verschwindend kleinen Teil der kommunizierten Inhalte aus, es müßte korrekter von richtigen oder vorgetäuschten Glaubensinhalten gesprochen werden.

Nach einem ideal verlaufenden Kommunikationsprozeß verfügen Sprecher und Hörer über den gleichen Wissensinhalt Wr, den der Sprecher beim Hörer hervorrufen wollte. In der Praxis bedingt die Unterschiedlichkeit der Erfahrungstheorien eine Abweichung zwischen den Wissensinhalten der Kommunizierenden nach der gegenseitigen Verständigung. Für die Realisierung von praktischen Zwecken ist eine Differenz zwischen dem Gemeinten und dem Verstandenen solange sie "genügend" klein ist, wobei genügend klein von der Situation abhängt, für die Handelnden unproblematisch und kann vernachlässigt werden. Der Hörer gelangt nicht zu Wr, sondern bleibt bei einem von beiden nicht intendierten Inhalt stehen, der Wr nahe kommt. Falls die Differenz das Kriterium "situativ genügend klein" überschreitet, gelangt der Hörer lediglich zu einem  Wissensinhalt Wt:
"Die Täuschungen, die dann auftreten können, sind absichtslos und im Mechanismus des Kommunikationsprozesses selbst verankert, da es ja in der Absicht des Sprechers liegt, Wr zu kommunizieren. Getäuscht werden können beide Kommunikationspartner: der Hörer, wenn er ein Wt als das vom Sprecher Gemeinte versteht, und der Sprecher, wenn er glaubt, der andere habe Wr verstanden, dieser tatsächlich aber nur Wt realisiert hat. Die in beabsichtigter Kommunikation des Wr auftretenden absichtslosen Täuschungen können, gemessen an der Differenz zwischen Wr und Wt, größer und gewichtiger sein als absichtsvolle." (Ungeheuer 1983c: 25)

Um so mehr sich ein Gespräch der kruzialen Kommunikation annähert, desto größer ist die Gefahr, daß die Differenz zwischen dem zu vermittelnden und dem konstruierten Wissensinhalt  inakzeptabel wird und die Beteiligten zudem die unbeabsichtigten Täuschungen nicht realisieren. Die Vermittlung eines täuschenden Wissensinhaltes ist genauso wie der eines richtigen Inhalt der Fallibilität unterworfen, im für den Sprecher ungünstigsten Fall versteht der Hörer Wr, obwohl er zu Wt gelangen sollte.

Die folgende Tabelle gibt eine einfache Klassifikation verbaler äußerer und innerer Täuschungen in Anlehnung an Ungeheuer:
 
 
Art Bezug Intention Erfolgsergebnis


absichtlich Täuschung

über sich selbst unabsichtlich Irrtum
Selbsttäuschung



über einen anderen absichtlich Täuschung


unabsichtlich Irrtum




Fremdtäuschung
absichtlich Lüge


unabsichtlich Irrtum

Abbildung 4: Klassifikation sprachlicher Täuschungen

Der Stellenwert von Selbsttäuschungen darf nicht unterschätzt werden, kommunikativ kommen die unabsichtlichen Täuschungen zum Zuge. Bei Selbsttäuschungen über sich selbst wird irrtümlicherweise angenommen, daß das Gemeinte dem Hörer klar und eindeutig formuliert wurde; außerdem können Sachverhalte fälschlicherweise für zutreffend oder für folgerichtig abgeleitet gehalten werden. In der Selbsttäuschung über andere werden fehlerhafte Urteile gefällt, das gegebene Vertrauen wird gebrochen, oder der Hörer erstellt ein Wt statt des erwarteten Wr.  Unabsichtliche kommunikative Täuschungen sind Irrtümer. Die absichtsvollen Selbsttäuschungen scheinen auf den ersten Blick nur flüchtigen Charakter zu haben, beispielsweise wurde ein Wr zugunsten eines Wt verdrängt oder eine Illusion über einen anderen für einen Moment erzeugt.

Absichtslose Fremdtäuschungen sind wegen der Defekte von Kommunikation und durch die unvollkommene menschliche Erkenntnis bedingten Irrtümer unvermeidlich, die unbeabsichtigte Irreführung des anderen gehört zur kommunikativen Praxis. Beabsichtigte sprachliche Fremdtäuschungen sind Irreführungen und Ablenkungen, die im Erfolgsfall zu einer Lüge führen:
"Die kommunikative Täuschungsabsicht kann in Bezug auf den Partner zwei Ziele verfolgen: sich selbst, d. h. den Sprecher vor dem Hörer zu verbergen (zu verschleiern, zu maskieren), oder den andern zum Zwecke der Persuasion irrezuführen in eine ganz bestimmte Richtung oder ins Vage, Mehrdeutige, Ungefähre, - ins Nicht-Wissen. Falsches Wissen oder Nicht-Wissen wird also herbeigeführt entweder zum eigenen Schutz oder zur Verführung des andern."
(Ungeheuer 1983c: 28)

Für das persuasive Handeln ist die Lüge von zentraler Bedeutung, sie gehört zu den Hauptstrategien. Die Definition der Lüge ist umstritten, ebenso ihre Abgrenzung zum Irrtumsbegriff. Lügen hat wie die anderen kommunikativen Phänomene zwei Seiten, die Falkenberg benennt:
"Auch ich werde lügen als Widerstreit zweier Seiten der Person auffassen, als Entzweiung von verbaler Handlung und Bewußtsein ... werde ich zu expositorischen Zwecken von der einen Seite als der 'Handlungsseite' des Lügens sprechen, von der anderen als der 'Bewußtseinsseite'." (Falkenberg 1982: 21)

Auf der Bewußtseinsseite liegen die Bedingungen und Motive des Lügners, der innere Handlungen vollzieht, und mit dem Entwurf der Lüge, die persuasive Handlung beginnt. Die Handlungsseite wird durch die äußeren Handlungen des Lügners geschaffen, sie führen das "Opfer" irre oder überführen den "Täter" als Lügner.

Der klassische Lügenbegriff  faßt die Lüge als Abweichung zwischen dem, was ein Mensch sagt, und dem, was er weiß. Drei Aspekte sind zu kritisieren: das Verb "sagen" ist mehrdeutig, der Lügner muß "wissen", und das, was er sagt, muß "wahr" sein. Das Verb "sagen" kann auf zwei Weisen verwendet werden: zum einen "schwach" als Vollzug eines phonetischen Aktes  und zum anderen "stark" als illokutionärer Akt , der eine Behauptung aufstellt. Lügen ist mehr als Laute zu produzieren, es muß ein illokutionärer Akt vollzogen werden, etwas wird "stark" gesagt. Der Lügner muß nicht unbedingt etwas falsches sagen, um zu lügen, denn er kann sich irren im Bewußtsein zu lügen und aus "Versehen" etwas richtiges sagen: die Lüge mißglückt. Eine Person, die etwas falsches behauptet, weil sie einen bekannten Sachverhalt für einen Augenblick nicht präsent hat, lügt im klassischen Sinne, weil sie es schließlich doch weiß. Der klassische Begriff ist zu unpräzise gegenüber dem Irrtumsbegriff abgegrenzt: er macht aus "versehentlich richtig sagen" Irrtümer und aus "versehentlich falsch sagen" Lügen. Außerdem wird zuviel vom Lügner verlangt, er muß die Wahrheit wissen, dies grenzt viele beabsichtigte Täuschungen aus.

Der Lügner muß nicht wissen, sondern nur das bewußt glauben, was er vertritt. Der Irrtum des Irrenden hängt dagegen davon ab, daß das, was er bewußt glaubt, nicht zutrifft. Auch muß der Lügner nichts Unwahres sagen, konstituierend für die Lüge ist alleinig der Glaube an die Falschheit des Behaupteten und nicht ob dies tatsächlich falsch ist. Unbeabsichtigte Selbsttäuschung und beabsichtigte Fremdtäuschung können in dem sich irrenden Lügner zusammentreffen, gleichfalls passen Lügen und korrektes Behaupten ohne weiteres zusammen. Falkenberg faßt zusammen:
"Das Gegenteil der Lüge ist nicht die Wahrheit - wie die klassische Theorie annimmt, wenn sie die Falschheit zum Konstituens der Lüge erklärt (12-2) und dadurch Lüge und Irrtum in einen Topf wirft (§15) ­, sondern die Wahrhaftigkeit; und umgekehrt ist das Gegenteil der Wahrheit nicht die Lüge, sondern die Falschheit. Wahrhaftigkeit und Wahrheit, Lüge und Falschheit fallen nicht ineins, weil es die Möglichkeit des Irrtums gibt. Deshalb muß man auch nicht wissen, was die Wahrheit ist, um zu wissen, ob etwas eine Lüge ist, und aus dem gleichen Grund brauchte eine Theorie der Lüge sich nicht auf eine bestimmte Theorie darüber festzulegen, was Wahrheit ist." (Falkenberg 1982: 55)

Lügen ist das Aufstellen einer Behauptung, die mit dem bewußten Glauben, daß sie falsch ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt vertreten wird. Die Lüge manifestiert sich im Erfolgsfall der Täuschung, sie ist das Ergebnis und der Kommunikationszweck einer Kommunikation, deren Ziel die Verständigung über die Äußerungen ist, die den Hörer anleiten sollen, den täuschenden Inhalt aufzubauen. Lüge und Verständigung stehen nicht in einer gegensätzlichen Relation. Die erfolgreiche Verständigung unter Täuschungsabsicht ist Voraussetzung für die Realisierung der Lüge. Die Lüge ist ein erfolgreicher Kommunikationszweck, der dem Zweck der Persuasion, vorgeschaltet ist. Das Lügen ist eine unter anderen kommunikativen Teilhandlungen im Rahmen der übergeordneten persuasiven Handlung.

Wenn der Lügner den festen Glauben hat, daß das, was er behauptet falsch ist, handelt er mit Vorsatz (dolus directus). Ist der Lügner unentschieden in seinem Glauben über den behaupteten Sachverhalt, es kann so sein oder vielleicht auch anders, liegt ein bedingter Vorsatz vor (dolus eventualis). In beiden Varianten wird Wahrhaftigkeit simuliert und Schein produziert:
"Welchen Schein aber will der Lügner erwecken? Doch denjenigen er glaube, daß p. Lügen ist ein Fall von vortäuschen, aber nicht von vortäuschen zu behaupten, sondern von vortäuschen zu glauben. Das kann man wegen der Faktivität von "ausdrücken" (§23) auch so formulieren: lügen heißt, so tun als ob man seine Überzeugung ausdrückt; in unserer Terminologie heißt dies nicht, so tun als ob man seine Überzeugung zum Ausdruck bringt (23-5). Der Lügner benimmt sich wie jemand, der wahrhaftig ist (aber er spielt nicht jemanden, der glaubt). Dadurch, daß er behauptet, daß p, tut er so, als glaube er, daß p, weil er jeden spontanen Ausdruck seines tatsächlichen gegenteiligen Glaubens, daß nicht p, unterdrückt." (Falkenberg 1982: 131)

Die kommunikative Asymmetrie bevorzugt den Sprecher und zudem den Lügner, denn der Hörer versucht den unklaren und vieldeutigen Äußerungen einen eindeutigen und klaren Sinn abzugewinnen. Aus eigener Erfahrung weiß der Hörer, daß Gedanken in der Rede entwickelt und vervollständigt werden, der Sprecher genießt einen Bonus und darf sich graduell unstimmig und verworren äußern.  Der Umfang der Gutmütigkeit des Hörers orientiert sich an der Einschätzung der Selbstdarstellung, Motivation, Glaubwürdigkeit, Vertrauenswürdigkeit und an der kommunikativen Kompetenz des Sprechers. Da Lügen Komplexität erhöhen, bei Entdeckung gesellschaftsnotwendiges Vertrauen zerstören und Sanktionen nach sich ziehen können, wird zu Recht die Wahrhaftigkeit von Behauptungen des Sprechers, der seine tatsächlichen Überzeugungen wiedergeben soll, angenommen. Erst wenn Zweifel beim Hörer entsteht, beginnt die Suche nach der Motivation des Sprechers, der möglicherweise mit Unwahrhaftigkeit handelt. Die Wahrhaftigkeit des Sprechers ist für die gegenseitige Verständigung keine Vorbedingung. Der praktische Konsens über die Bedeutung der Beiträge tangiert weder Richtigkeit noch Wahrhaftigkeit der aufgestellten Behauptungen, aus dem Verständigungsakt lassen sich Lüge oder Irrtum nicht ableiten. Unwahrhaftigkeit kann gleichwohl die Folge haben, daß die Kommunikation nach der Realisierung der Verständigung abgebrochen, und der "Täter" "exkommuniziert" wird.

Um den Erfolg der Lüge zu sichern, muß der Lügner Grundsätze und Bedingungen beachten, die je nach individueller Kommunikationstheorie reflektiert und praktisch eingeübt sind. Die möglichen allgemeinen Lügenstrategien sind genauso vielfältig wie es unterschiedliche Erfahrungstheorien gibt. Vollständigkeit ist nicht zu erreichen, deswegen folgt nur eine Skizze der Parameter. Der "gute" Lügner muß:

· die Vertrauenswürdigkeit der Person oder Institution sicherstellen
· die Glaubwürdigkeit in der Sache erzielen
· Kenntnisse über die Welttheorie des "Opfers" (Wissen, Vorurteile usf.) und der speziellen Situationsbedingungen ausnutzen
· die authentische Nachahmung oder Simulation einer wahrhaftigen Rede meistern
· Übertreibungen, Unverhältnismäßigkeiten, Unstimmigkeiten, Auffälligkeiten der Darstellung und der Selbstdarstellung vermeiden; durch Beiläufigkeit, Gelassenheit und Zurückhaltung die Seriösität der Lüge fördern
· Präzision, Konstanz und Widerspruchsfreiheit der Details der Lüge gewährleisten
· das Täuschungsmotiv verdunkeln und verschleiern
· die entlarvten Lügen mit harmlosem Motiv etikettieren.

Lügen bedeutet einen wahrhaftigen Kommunikationsprozeß, von dem vorausgesetzt wird, das dies der "normale" Fall sei, zu simulieren. Der Bruch mit der "Normalität" wahrhaftiger Dialoge ist für den "Täter" ein hohes Risiko, er will auf keinen Fall den Verdacht einer Lüge aufkommen lassen. Das Bewußtsein der Lüge, die Diskrepanz zwischen eigenem Glauben und dem Behaupteten, die Furcht vor der Entlarvung und die Gebote von Moral und Erziehung bauen Spannungen auf, die der Lügner verbal und nonverbal kontrollieren muß. Der Lügner erhöht die Komplexität seiner Situation, um die Lüge zu beherrschen, im Gegensatz zum vertrauenden Opfer, das vertrauend seine Komplexität vermindern kann. Spezifische Lügensignale auf der nonverbalen Ebene sind beispielsweise Nervosität, Unstimmigkeit im Bewegungsablauf, Erröten, Zerstreutheit, Angstzustände, undeutliche Artikulation und unsicherer Blickkontakt. Dies sind Indizien und keine Beweise für das Lügen des "Täters", sie erwecken jedoch den Verdacht des wachsamen "Opfers".

Verbal muß sich der Lügner auf eine widerspruchsfreie Präsentation der Fakten oder Argumente konzentrieren, Fragmente des selbst geglaubten, richtigen Sachverhalts dürfen nicht versehentlich geäußert werden. Außerdem darf die Strategie des Lügners weder offensichtliche Mängel haben noch ihrer Struktur nach die Täuschungshandlung anzeigen. Ganz problematisch für den Lügner ist die Einbettung der Lüge in Formen der Wahrheitsbeteuerung, Vertrauensappelle, Schwüre oder Ehrenworte , der Verdacht, einer Lüge liegt nahe. Im einfachen Fall glaubt der Hörer nach der Verständigung dem Sprecher: der kommunikative Zweck, die Konstruktion der Lüge, ist erreicht. Komplizierter wird die Situation, wenn das "Opfer" einen Verdacht aufgrund von Zweifeln über Glaubwürdigkeit und Stimmigkeit oder wegen der Diagnose von Lügensignalen hat und diese kommunikativ ausräumen will. Ein zusätzlicher Dialog kann den Verdacht entkräften, ihn bestehen lassen oder den Lügner überführen. Die Überführung des Lügners hebt die persuasive Asymmetrie von "Täter" und "Opfer" auf, zumeist ist dann die unmittelbare Fortsetzung und der Erfolg der persuasiven Handlung ausgeschlossen.

Der Kommunikationsprozeß läßt sich vom Persuasionsprozeß nicht am äußeren Handeln zuverlässig unterscheiden, da die Bewußtheit und Akzentuierung der Zwecke sowie die Auswahl der Pläne und Mittel nur im inneren Handeln der Beteiligten unmittelbar erfahrbar ist. Weil die Grenze zwischen kommunikativen und persuasiven Handeln nicht immer eindeutig zu ziehen ist, persuasives Handeln stets als kommunikatives Handeln erscheint und jedes Erreichen eines Kommunikationszwecks etwas Persuasives aufweist, trägt jeder Kommunikationsprozeß einen persuasiven Charakter.

[...]
 

4.4  Die Kommunikationsguerilla

Die Subjektion des Hörers unter die Dominanz des Sprechers bekommt bei der Betrachtung der Massenmedien eine besondere Dimension. Die face-to-face Kommunikation läßt verteilte Sprechbeiträge für die Beteiligten zu, sofern nicht ein zu starker Sprecher (auch institutionell legitimiert) oder ein dominierender "Täter" die Oberhand bekommen und den Hörer unterwerfen, so daß der Hörer ständig nur Hörer bleibt. Bei den Massenmedien Fernsehen, Hörfunk und Druckmedien, ist das kommunikative Extremum der Normalzustand, Baudrillard erläutert die radikale und prinzipielle Asymmetrie:
"die Medien sind dasjenige, welche die Antwort für immer untersagt, daß, was jeden Tauschprozeß verunmöglicht (es sei denn in Form der Simulation einer Antwort, die selbst in den Sendeprozeß integriert ist, was an der Einseitigkeit der Kommunikation nichts ändert). Darin liegt ihre wirkliche Abstraktheit. Und in dieser Abstraktheit gründet das System der sozialen Kontrolle und der Macht ... die Macht gehört demjenigen, der zu geben vermag und dem nicht zurückgegeben werden kann ... der gesellschaftliche Prozeß ist auf diese Weise aus dem Gleichgewicht gebracht" (Baudrillard 1978b: 91).

Die medialen Reden sind Reden ohne Antwort, die Hörer befinden sich in absoluter kommunikativer Asymmetrie: sie stecken in der "Zwangsjacke" des Mediums. Das Bemühen, Leser, Zuschauer oder Zuhörer zu aktivieren und Interaktion anzustoßen, schafft im besten Fall die Illusion einer abgeschwächten Einseitigkeit des Kommunikationsprozesses. Da der Rezipient der Massenmedien weder unmittelbar nachfragen noch kritisieren darf, die vom Medium erwünschten Antworten stets vorbereitet oder selektiert sind, und die mittelbare Rückmeldung äußerst eingeschränkt ist, besteht keine Aussicht die radikale Asymmetrie zu lockern. Der Hörer ist verurteilt, stumm zu bleiben, und das fördert eine ohnmächtige und passive Haltung zum Massenmedium bis hin zur sozialen Subordination.

Die Allgegenwärtigkeit der Medien erschwert die Distanzierung von der kollektiven Unterordnung, und doch ist die Kontrolle der Quelle und des Senders keine absolute Kontrolle, wie Eco 1967 im Vortrag "Für eine semiologische Guerilla" formuliert:
"Denn immerhin hat der Empfänger ja beim Empfang der Botschaft noch einen Rest von Freiheit, nämlich sie anders zu lesen." (Eco 1996b: 149)
Die medialen Sender kontrollieren die Form der Nachricht, jedoch nicht die Lesart und die Erstellung von Information. Selbst wenn die Interpretationen von Nachrichten beim Publikum ähnlich erscheinen, bleibt die Rezeption offen und unbestimmt. Die subjektive Bedeutungskonstruktion des Hörers verläuft unter dem "Schutz" der Innen-Außen-Dichotomie und ist somit die Grenze jeder Medienmacht. Um das Anders-Lesen und -Hören des Rezipienten zu aktivieren, schlägt Eco vor:
"Eine komplementäre Manifestation, eher ergänzend als alternativ zu den Manifestationen der Technologischen Kommunikation, eine laufende Überprüfung der Codes, eine ständig erneuerte Interpretation der Massenbotschaften. Die Welt der Technologischen Kommunikation würde dann sozusagen von Kommunikationsguerilleros durchzogen, die eine kritische Dimension in das passive Rezeptionsverhalten einbrächten. Aus der Drohung vom Medium als der Botschaft könnte, angesichts der Medien und ihrer Botschaften, eine Rückkehr zur individueller Verantwortlichkeit hervorgehen. Gegenüber der anonymen
 Gottheit der Technologischen Kommunikation könnte unsere Antwort lauten: 'Nicht Dein, sondern unser Wille geschehe.' "
(Eco 1996b: 156)

Eine Kommunikationsguerilla muß nach Meinung Ecos die Rezipienten motivieren, die medialen Nachrichten kritisch zu prüfen. Eine direkte Mitwirkung externer und systemunerwünschter Gruppen ist in den Massenmedien nicht vorgesehen, das System kann durch Beiträge von Außen nicht im Geltungsanspruch relativiert werden. Einer Kommunikationsguerilla bleibt nur eine indirekte Medienkritik: sie muß durch gezielte Aktionen, das Wahrheitsmonopol der Massenmedien untergraben. Das Publikum weiß oder ahnt den fiktiven Charakter der Berichterstattung, doch es bedarf der Irritation von Gewohnheiten, um sich die Relativität der Darstellungen zu vergegenwärtigen. In einem Artikel aus dem Jahr 1978 konstatiert Eco:
"So kommt es im Zeitalter der elektronischen Information allmählich zur Ausbreitung einer neuen Form von nicht gewaltsamer (jedenfalls unblutiger) Guerilla: zur Guerilla der Fälschung ... Die neuen Formen von subversiver Guerilla zielen dagegen auf eine Schwächung des Systems durch Zersetzung jenes feinmaschigen Konsensgewebes, das auf einigen Grundregeln des Gemeinschaftslebens beruht."
(Eco 1996c: 164 - 165)

Am Widerstand von Rezipienten, die sich gegen die ungleiche Medienkommunikation zur Wehr setzen, zeigt sich eine andersartige Form von Persuasion. Die Auflehnung gegen mediale Systeme, die strukturell asymmetrisch funktionieren und ihre kommunikative Rigidität nur durch Destruktion verlieren würden, muß mit einem anderen Ansatz als in einer face-to-face Persuasion zwischen Beteiligten, bei denen Sprecher und Hörer ihre Rollen tauschen können, realisiert werden:
"Da, wo es unmöglich erscheint, die Modalitäten des Sendens und die Form der Botschaften zu verändern, bleibt es möglich (als eine ideale semiotische 'Guerilla'), die Umstände zu verändern, in deren Licht die Empfänger die Lektürecodes auswählen werden. Gegen eine Strategie der Kommunikation, die sich bemüht, die Botschaften so redundant zu machen, daß deren Rezeption nach den vorher festgelegten Plänen gesichert ist, zeichnet sich die Möglichkeit einer Taktik der Decodierung ab, die verschiedene Umstände für verschiedene Decodierungen herstellt, wobei die Botschaft als signifikante Form unverändert bleibt ..." (Eco 1991: 441)

Es stellt sich die Frage, wie die persuasiven Mittel einer semiotischen Guerillataktik beschaffen sein können. Eine mögliche Antwort gibt das "Handbuch der Kommunikationsguerilla", in dem die Autoren die grundsätzlichen Vorgehensweisen ausführlich diskutieren; sie verwenden den Begriff der Kommunikationsguerilla wegen seiner weitreichenden Praxis auch für die face-to-face Kommunikation. Der Ausgangsbegriff des Autorenkollektivs ist die Kulturelle Grammatik einer Gesellschaft:
"Mit Kulturelle Grammatik bezeichnen wir das Regelsystem, das gesellschaftliche Beziehungen und Interaktionen strukturiert. Es enthält die Gesamtheit der ästhetischen Codes und der Verhaltensregeln, die das gesellschaftlich als angemessen empfundene Erscheinungsbild von Objekten und den normalen Ablauf von Situationen bestimmen. Die kulturelle Grammatik ordnet die zahllosen, auf allen Ebenen einer Gesellschaft sich alltäglich wiederholenden Rituale. Auch gesellschaftliche Raum- und Zeiteinteilungen, die Bewegungsformen und Kommunikationsmöglichkeiten vorgeben, sind darin enthalten."
(Autonome a.f.r.i.k.a. - gruppe/Blisset/Brünzels 1997: 17 - 18)

Die Regeln dieser Grammatik sind - ähnlich den Regeln des Sprachsystems - nie endgültig und unwiderruflich, das alltägliche und selbstverständliche Handeln der Akteure produziert, reproduziert und falsifiziert die kulturellen Vorschriften. Im abstrahierend ermittelten Regelsystem spiegeln sich auch die gesellschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisse wider: Machtausübung und Unterordnung bewegen sich in definierten Bahnen, Rituale und Formen dominieren vor direktem Zwang und regeln die Abläufe. Es gibt kommunikative Regeln der Kulturellen Grammatik, die festlegen, wer etwas, zu welcher Zeit und an welchem Ort sagen darf; hierdurch werden die Möglichkeiten des Hörers die Sprecherrolle zu übernehmen abgesteckt. Das Ziel der Kommunikationsguerilla ist, die Ordnung der Kulturellen Grammatik zu stören, durcheinanderzubringen und zu durchbrechen, um den Beweis zur erbringen, daß andere Lesarten oder Wirklichkeitskonstruktionen möglich sind:
"Kommunikationsguerilla ist der Versuch, durch Eingriffe in den Kommunikationsprozeß subversive Wirkungen hervorzubringen. Die vielfältigen Methoden und Techniken, die dabei genutzt werden, funktionieren nach zwei grundsätzlichen Prinzipien: den Prinzipien der Verfremdung und der Überidentifizierung. Verfremdungen beruhen auf subtilen Veränderungen der Darstellung des Gewohnten, die neue Aspekte eines Sachverhalts sichtbar machen, Raum für ungewohnte Lesarten gewöhnlicher Geschehnisse schaffen oder über Verschiebungen Bedeutungen herstellen, die nicht vorgesehen oder erwartbar sind. Überidentifizierung dagegen bedeutet, solche Aspekte des Gewohnten offen auszusprechen, die zwar allgemein bekannt, zugleich aber auch tabuisiert sind."
(Autonome a.f.r.i.k.a. - gruppe/Blisset/Brünzels 1997: 46)

Durch Verfremdung und Überidentifizierung soll die Ordnung der Dinge und des Diskurses gestört werden. Die Erzeugung von Distanz eröffnet den kritischen Blick auf Selbstverständliches und ermöglicht die Konstruktion alternativer Bedeutungen. Auf der Grundlage der beiden Prinzipien beruhen die persuasiven Methoden der Kommunikationsguerilleros:
"Die Erfindung falscher Tatsachen zur Schaffung wahrer Ereignisse ist eine Methode, die Mechanismen offenzulegen und zu kritisieren, die die hegemoniale Produktion medialer und politischer Bilder von Wirklichkeit bestimmen. Diese Methode geht über die analytisch-aufklärerische Formen von Information und Gegeninformation weit hinaus: Sie greift nicht die konkrete Darstellung von Themen an, sondern treibt ihr Spiel mit den Mechanismen, durch die Politik und Medien gesellschaftlich relevante Ereignisse produzieren."
(Autonome a.f.r.i.k.a. - gruppe/Blisset/Brünzels 1997: 58)

Damit die Methode Erfolg haben kann, muß die Verteilung des Erfundenen über eine vertrauenswürdige Person oder ein vertrauenswürdiges Medium geschehen, das wiederum erfunden sein kann. Falschmeldungen erschüttern das Vertrauen in die Medien, sie beeinträchtigen den implizit und explizit vorhandenen Anspruch auf objektive und wahrheitsgemäße Berichterstattung. Eine große Wirkung und strafrechtliche Dimension hat die Technik der Fälschung (engl. fake):
"Das Herstellen von Fakes ist eines der beliebtesten Betätigungsfelder von Kommunikationsguerillas ... Es ahmt die Stimme der Macht möglichst perfekt nach, um für einen begrenzten Zeitraum unentdeckt in ihrem Namen und mit ihrer Autorität zu sprechen ... Ziel ist es vielmehr, einen Kommunikationsprozeß auszulösen, bei dem - oft gerade durch die (beabsichtigte) Aufdeckung der Fälschung - die Struktur der gefaketen [gefälschten] Kommunikationssituation selbst zum Thema wird ... Die Taktik des Fakens beruht auf einem Paradox: Das Fake sollte einerseits möglichst wenig als solches erkennbar sein (die Fälschung muß gut sein), es soll aber zugleich einen Kommunikationsprozeß auslösen, in dem klar wird, daß die Information falsch war: Das Fake muß aufgedeckt werden. Kurzgefaßt lautet die Formel:
Fake = Fälschung + Aufdeckung/Dementi/Bekenntnis."
(Autonome a.f.r.i.k.a. - gruppe/Blisset/Brünzels 1997: 65 - 69)

Der Fälschung folgt häufig ein Dementi, um die gestörte Ordnung wiederherzustellen; dies können die Fälscher vorhersehen und mit einer weiteren Fälschung beantworten. Außerdem kann ein Dementi gefälscht werden, um ein Dementi des Dementi zu provozieren. Für den Rezipienten soll ein Raum entstehen, in welchem Wahrheit und Unwahrheit nicht mehr klar zu unterscheiden sind. Durch Fälschungen wird keine neue Wahrheit verbreitet: die Wahrheit selbst kommt in eine Krise, wenn das Systemvertrauen in die Medien untergraben wird.

Als letzte Methode wird die Entwendung und Umdeutung vorgestellt, sie hat das Ziel, die gewohnte Perspektive auf Bekanntes fragwürdig zu machen:
"Unter Entwendung bzw. Umdeutung wird eine Methode der Verfremdung verstanden, die den Blick auf allgemein bekannte Gegenstände oder Bilder verändert, indem sie sie aus ihrem gewohnten Kontext herausreißt und in einen neuen, ungewohnten Zusammenhang stellt. Diese Methode [, die] in der Popkultur Sampling genannt wird, erfolgt im visuellen Bereich zumeist über Collagen oder Montagen, inzwischen auch per Computer. Allerdings können ebenso Begriffe oder Sätze entwendet werden."
(Autonome a.f.r.i.k.a. - gruppe/Blisset/Brünzels 1997: 87)

Besonders an der Methode der Entwendung und Umdeutung wird die Nähe zur künstlerischen Arbeit deutlich, Künstler arbeiten mit gleichen oder ähnlichen Mitteln wie die Kommunikationsguerilla, um die Wahrnehmungsmuster und Deutungsschemata des Publikums zu erschüttern.

Die bewußte Aufgabe der Ziele Aufklärung, Überzeugung und Wahrheit zugunsten lokaler, momenthafter Irritationen der Rezipienten ist eine Absage der Kommunikationsguerilleros an politische und wissenschaftliche Ideologien, die Objektivität vortäuschen und Simulationen von Wirklichkeit als Wahrheiten vermitteln. Der Anspruch auf eine bessere Ideologie, Utopie oder Wahrheit wird nicht erhoben, im Rezipienten soll die Erfahrung der Vieldeutigkeit der Wirklichkeit und die Wahrheit der Relativität aller Wahrheit hervorgerufen werden.

Alle persuasiven Methoden der Kommunikationsguerilla zeigt Abbildung 11 im Überblick:
 
 
Persuasionsmittel Beispiele
Erfindung von Ereignissen fingierter Telephonanruf über ein fiktives Ereignis
Camouflage Konventionelle Popsongs mit subversiven Texten
Herstellen von Fälschungen Gefälschte Pressemitteilungen, Freifahrscheine usf.
Subversive Affirmation [38] Die falschen Leute machen zuviel des 'Richtigen'
Entwendung, Umdeutung  Parodien aller Art, moderne Kunstwerke

Abbildung 11: Subversive, mediale Persuasionsmittel



[38] Vergl. (Autonome a.f.r.i.c.a.-gruppe/ Blisset/ Brünzels 1997: 80).

 5  Die Grenzen des Überzeugens

5.1  Die Unmöglichkeit der idealen Sprechsituation

Die Sozialtheorie von Habermas, die an die Kritische Theorie der Frankfurter Schule anknüpft, ist ein Versuch, Gesellschaft mit einer sprachtheoretischen und kommunikationstheoretischen Konzeption zu erklären:
"Die Kommunikationstheorie der Gesellschaft, für deren Entwicklung ich plädiere, begreift den Lebensprozeß der Gesellschaft als einen durch Sprechakte vermittelten Erzeugungsprozeß. Die gesellschaftliche Realität, die daraus hervorgeht, ruht auf der Faktizität der in symbolischen Gebilden wie Sätzen, Handlungen, Gesten, Überlieferungen, Institutionen, Weltbildern usw. implizierten Geltungsansprüchen ... Ich werde vier Klassen von Geltungsansprüchen unterscheiden, die Anerkennung fordern und finden können: Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit. Diese Ansprüche konvergieren in einem einzigen: dem der Vernünftigkeit ... Soweit wir überhaupt Sprechakte vollziehen, stehen wir auch unter den eigentümlichen Imperativen derjenigen Macht, die ich unter dem ehrwürdigen Titel 'Vernunft' aus der Struktur möglicher Rede begründen möchte." (Habermas 1984b: 104 - 105)

Die Vernunft dominiert und fundiert nach der Ansicht von Habermas die Sprechakte und die Lebensform der Gesellschaftsmitglieder. Die Hörakte des Hörers sowie die menschlichen Emotionen werden als Größen des kommunikativen Handelns nicht berücksichtigt. Um die Aktivität der Kommunizierenden zu erfassen, ist nach Habermas eine Theorie der kommunikativen Kompetenz erforderlich, die den Gegenstand einer Universalpragmatik, der allgemeinen Strukturen möglicher Redesituationen, behandelt:
"Elementare Äußerungen sind die Grundeinheiten des Gegenstandsbereichs der Universalpragmatik. Die Aufgabe der Universalpragmatik als einer Theorie der kommunikativen Kompetenz sehe ich darin, das System von Regeln zu rekonstruieren, nach dem kommunikativ kompetente Sprecher aus Sätzen Äußerungen bilden und in andere Äußerungen umformen. Die konkreten Äußerungen sind Gegenstand der empirischen Pragmatik." (Habermas 1971: 107)

Die Intersubjektivität wird durch die Existenz der pragmatischen Universalien als Regelsysteme sichergestellt: sie sind Bedingungen, um die Dialoge zwischen handlungsfähigen Subjekten hervorzubringen, und erlauben zugleich eine sprachliche Darstellung von Situationen. Das kommunikative Handeln wird von Habermas in zwei Klassen aufgeteilt:
"Wir können mithin zwei Formen der Kommunikation (oder der 'Rede') unterscheiden: kommunikatives Handeln (Interaktion) auf der einen Seite, Diskurs auf der anderen Seite. Dort wird die Geltung von Sinnzusammenhängen naiv vorausgesetzt, um Informationen (handlungsbezogene Erfahrungen) auszutauschen; hier werden problematisierte Geltungsansprüche zum Thema gemacht, aber keine Informationen ausgetauscht. In Diskursen suchen wir ein problematisiertes Einverständnis, das im kommunikativen Handeln bestanden hat, durch Begründung wiederherzustellen: in diesem Sinne spreche ich fortan von (diskursiver) Verständigung." (Habermas 1971: 115)

Die Unterscheidung zwischen kommunikativem Handeln und Diskurs ist unpräzise, denn diskursives Handeln muß notwendig auch kommunikatives Handeln sein. Im Diskurs wird über kontroverse Meinungen und Normen entschieden. Voraussetzung für den Diskurs ist die Zurechnungsfähigkeit der vernunftfähigen und vernunftgeleiteten Teilnehmer, die zwischen Sein und Schein differenzieren können. Verständigung im Sinne von Habermas entspricht der Herstellung eines wahren Konsenses. Die Geltung des Konsenses muß mit einer Wahrheitstheorie erklärt werden. Im Gegensatz zu ontologischen Wahrheitstheorien, die Aussagen über Vorgänge oder Objekte in Korrespondenz zu den "wirklichen" Gegebenheiten setzen, ist die Konsenstheorie der Wahrheit ein Ansatz, Wahrheit abhängig von der Zustimmung einer Menge von Personen zu definieren. Aussagen gelten konsensuell als wahr, wenn potentiell unendlich viele Menschen unter idealen Kommunikationsbedingungen der Aussage allgemein zustimmen. Die Vorwegnahme von vernunftgeleiteten Subjekten und einer idealen Sprechsituation ist für einen Diskurs unerläßlich, damit die Wahrheitsfindung nicht von externen Störgrößen wie Unwahrhaftigkeit, Abhängigkeit, Herrschaft, Zwang und Täuschung beeinträchtigt wird:
"Ideal nennen wir im Hinblick auf die Unterscheidung des wahren vom falschen Konsensus eine Sprechsituation, in der die Kommunikation nicht nur nicht durch äußere kontingente Einwirkungen, sondern auch nicht durch Zwänge behindert wird, die aus der Struktur der Kommunikation selbst sich ergeben. Die ideale Sprechsituation schließt systematische Verzerrung der Kommunikation aus. Nur dann herrscht ausschließlich der eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Argumentes, der die methodische Überprüfung von Behauptungen sachverständig zum Zuge kommen läßt und die Entscheidung praktischer Fragen rational motivieren kann. Ich möchte nun nachweisen, daß die Kommunikationsstruktur selber dann und nur dann keine Zwänge produziert, wenn für alle möglichen Beteiligten eine symmetrische Verteilung der Chancen, Sprechakte zu wählen und auszuüben, gegeben ist ... Die kontrafaktischen Bedingungen der idealen Sprechsituation erweisen sich als Bedingungen einer idealen Lebensform." (Habermas 1971: 137 - 139)

Das Konzept der idealen Sprechsituation ist für die Theorie von Habermas fundamental. Diskurse ohne äußere Einwirkung und Zwang sowie mit annähernd symmetrischer Verteilung der Sprecherrollen sind jedoch empirisch selten oder nie vorzufinden. Der empirische Einwand ist für Habermas unproblematisch, er bezeichnet sein Konstrukt selbst als kontrafaktisch, es hat den Status einer Unterstellung:
"Gleichwohl gehört es zur Struktur möglicher Rede, daß wir im Vollzug der Sprechakte (und der Handlungen) kontrafaktisch so tun, als sei die ideale Sprechsituation (oder das Modell reinen kommunikativen Handelns) nicht bloß fiktiv, sondern wirklich - eben das nennen wir eine Unterstellung. Das normative Fundament sprachlicher Verständigung ist mithin beides: antizipiert, aber als antizipierte Grundlage auch wirksam ... Der Vorgriff auf die ideale Sprechsituation hat für jede mögliche Kommunikation die Bedeutung eines konstitutiven Scheins, der zugleich Vorschein einer Lebensform ist."
(Habermas 1971: 140 - 141)

Die ideale Sprechsituation, an der alle konkreten Diskurse gemessen werden sollen, ist auf zweifache Weise ideal: sie ist ideal gegenüber externen Faktoren, die nicht stören dürfen, und ihre internen Bedingungen sind ideal: die pragmatischen Universalien ermöglichen Sprechakte, die in symmetrischer Verteilung und unverzerrter Kommunikationsstruktur dem "besseren" Argument zum Erfolg verhelfen. Das "bessere" Argument ist im Diskurs unter idealen Bedingungen eine wahrheitsschaffende Größe und wird von den Beteiligten durch einen wahren Konsens gefunden.

Der Konstruktionsfehler der idealen Sprechsituation zeigt sich nicht an der Tatsache, daß sie permanent empirisch falsifiziert wird, sondern an der Idealisierung der internen Bedingungen. Das Modell vernachlässigt die Ungleichheit der Handelnden, die Fundamentalstruktur kommunikativen Handelns und die Innen-Außen-Dichotomie. Menschen leben in individuellen Welttheorien und individuellen Kommunikationstheorien, ihre kommunikativen Möglichkeiten sind höchst unterschiedlich: es gibt "schwache" und "starke" Sprecher, es gibt "schwache" und "starke" Hörer. Die aktive und passive Verwendung der Zeicheninventare ist ungleich verteilt, auch wenn externe Störungen ausbleiben, reicht es nicht aus, nur zurechnungsfähig zu sein, um ein Argument adäquat mitzuteilen, korrekt zu verstehen und als bestes Argument zu erkennen. Habermas macht zudem die stillschweigende Voraussetzung, daß die Verständigung über die konsensuelle Verständigung immer täuschungsfrei möglich ist. Den zweifelsfreien Beweis gegenseitiger Verständigung kann er jedoch in einem Diskurs, der sich kruzialer Kommunikation annähert und somit von übergeordneten Sozialhandlungen weitgehend löst, wegen der fehlenden objektiven Verständigungskontrollen nicht erbringen. Gerade in einem kruzialen Diskurs wächst die Wahrscheinlichkeit von Irrtümern und Mißverständnissen: die Fallibilität der kommunikativen Akte kommt voll zur Geltung.

Die ideale Sprechsituation offenbart sich als Chimäre, wenn die Struktur der kommunikativen Fundamentalhandlung betrachtet wird. Damit ein Hörer das Gemeinte rekonstruieren kann, muß er sich dem Sprecher unterordnen: die sprachlichen Formulierungen als äußeres Handeln führen und leiten das innere Handeln des Hörers, das auf Verständigung abzielt. Die Subjektion des Hörers unter die Dominanz des Sprechers ist zwingend erforderlich, um den Kommunikationsprozeß in Gang und zum Erfolg zu bringen. Der Hörer steht unter dem strukturell-kommunikativen Zwang sich einzulassen, der Steuerung des Sprechers Folge zu leisten oder den Kommunikationsprozeß abzubrechen. Für einen eloquenten Sprecher bringt die Asymmetrie der Kommunikationsphasen einen Vorteil, den Vernunft und Kooperationswille nicht eliminieren können. In jeder Kommunikationsphase eines Kommunikationsprozesses steckt immer eine Dominanz und ein Zwang, potentiell wird der Prozeß in jeder Phase verzerrt, schafft soziale Ungleichheit oder verhindert die Zustimmung zum "besseren" Argument. Die kommunikative Subjektion nimmt jedem Kommunikationsprozeß den von Habermas postulierten idealen Schein: die ideale Sprechsituation ist nicht wahrheitsfähig. Kommunikationsprozesse müssen, um zu funktionieren, einen durch die Subjektion bedingten persuasiven Charakter tragen.

In Anlehnung an Habermas ist die ideale Sprechsituation als Kriterium für konkret vorkommende Argumentationen rezipiert worden, Völzing sekundiert:
"Kooperative Argumentationen oder, wie es Habermas 1971, 1973 und 1976 nennt, Diskurse, haben die Funktion, als Maßstab für alle Vorkommen von Sprache zu dienen, von denen behauptet wird, sei es nun ausgesprochen oder unausgesprochen, daß sie argumentativen Zwecken dienen." (Völzing 1979: 14)

Nach der Einführung eines idealen Maßes kann Völzing jede Argumentation als kooperativ oder strategisch klassifizieren:
"Wir haben bis jetzt folgende Typen von Argumentationen kennengelernt, die sich vor allem durch den Zweck, zu dem sie geführt werden, unterscheiden:
- kooperative Argumentationen, die der Findung eines wahren Konsenses dienen, in denen jeder nach bestem Wissen und Gewissen das, was er meint, fühlt und wünscht, beiträgt. Ziel ist es, den Anderen [anderen] zu überzeugen.
- strategische Argumentationen, in denen alle Kommunikationsteilnehmer so tun, als ob sie sich in einer kooperativen befänden, in Wirklichkeit verfolgt aber jeder sein Ziel, das vor allem ihm nützt, dem anderen aber evtl. sogar schadet. Ziel ist es, den Gegenüber zu überreden." (Völzing 1979: 204)

Die Unmöglichkeit einer idealen Sprechsituation läßt die von Völzing getroffene Unterscheidung von Überzeugen und Überreden nicht zu. Völzing assoziiert Eigennutz mit Überreden, noch negativer formuliert Kopperschmidt:
"Insofern kann Überredung als eine Erscheinungsweise von Gewalt verstanden werden, die sich nicht selten mit anderen Formen von Gewalt verbindet ..." (Kopperschmidt 1973: 150)

Kopperschmidt stützt seine "Allgemeine Rhetorik" ebenfalls auf die Theorie der kommunikativen Kompetenz von Habermas, Überzeugen wird nach der Abwertung des Überredens mit Persuasion gleichgesetzt:
"Der Versuch, argumentativ diesen Konsens herzustellen, läßt sich mit dem bisher schon verwendeten Begriff überzeugen beschreiben und entsprechend eine so orientierte Kommunikation als überzeugende bzw. - wie es in dieser Arbeit heißen wird - als Persuasive Kommunikation kennzeichnen." (Kopperschmidt 1973: 18)

Auch Kopperschmidts Ansatz fällt mit der Unmöglichkeit einer idealen Sprechsituation, so daß die Identifizierung von Überzeugen mit Kooperation, Gemeinnutz oder konsensueller Wahrheit nicht gerechtfertigt ist.

[...]
 

Literaturverzeichnis

 



URL: www.gata-verlag.de/prob18.html; Stand: 21.06.2005

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