Junge, Thorsten:
Die Okkupation des Fleisches. Konstitutionen des Selbst im Zeitalter der Transplantationsmedizin. (Broschiert, 252 S., DIN A5) Eitorf: gata 2001. |
Eine Auseinandersetzung mit der Medizin der Gegenwart, wie sie vorliegende
Arbeit vollziehen will, steckt von vornherein in dem von Slavoj Zizek angedeuteten
Dilemma, dem Verhältnis zwischen akademischer Theorie und politischem
Handeln. Aufgrund dieses Dilemmas, dem derzeit ein Großteil sozialwissenschaftlicher
Forschung unterworfen ist, sind Zweifel über den Sinn dieser Arbeit
nicht unangebracht, zumal wenn man die Ergebnisse der traditionsreichen
Geschichte der Medizinkritik und deren Wirkung auf das Gesundheitswesen
zur Kenntnis nimmt.
Jedoch muß der einzige Ausweg aus diesem Zwiespalt Zynismus sein?
Das Thema dieser Arbeit ist die Transplantationsmedizin, eine spezielle
Technik der modernen Hochleistungsmedizin, die nach Aussagen der UNESCO
nach dem Jahr 2000 jeden zweiten chirurgischen Eingriff dominieren wird.
Während die biomedizinischen Praktiken und Entwicklungen der Reproduktions-
und Gentechnik, die sich mit dem Lebensanfang beschäftigen, in einer
beeindruckenden Fülle von Arbeiten kritisch diskutiert werden, fristet
die Transplantationsmedizin im sozialwissenschaftlichen Diskurs noch ein
Schattendasein. Wenn sich Autoren und Autorinnen mit diesem Zweig der Medizin
beschäftigen, so richtet sich ihr Augenmerk hauptsächlich auf
die psychosoziale Ebene der Organimplantation oder auf die systemtheoretische
Ebene der Organisations- und Verfahrensabläufe des Transplantationssystems.
In der medial vermittelten Öffentlichkeit wird die Thematik der
Organverpflanzung zumeist unter ethisch-moralischen Vorzeichen diskutiert,
die jede andere kritische Nachfrage an den Bollwerken moralisierender Stellungnahmen
verhindern. Einzig die spektakuläre Berichterstattung über Fälle
von Organraub und Organhandel erzeugt kritische Statements, wobei sich
die Kritik hierbei nicht gegen das Verfahren als solches richtet, sondern
vielmehr auf die prozessualen Abläufe dieser Art von Geschehnissen.
Um diese Leerstellen zu füllen, habe ich mir zwei Aufgaben gestellt,
die in der vorliegenden Arbeit abgehandelt werden sollen:
a) Einerseits soll die Transplantationsmedizin im Sinne einer kritischen
Bestandsaufnahme verortet und die inhärenten Konfliktpotentiale beschrieben
werden. Damit soll die kritische Seite gegenüber dem befürwortenden
Diskurs gestärkt werden. Die Transplantationsmedizin bricht massiv
mit tradierten Vorstellungen. So verabschiedet sich die Hirntod-Konvention
von den vertrauten Vorstellungen eines sinnlich wahrnehmbaren Todes zugunsten
eines neuen, contraintuitiven Todesverständnisses. Krankheiten aus
Organversagen unterliegen dem rationalen Verständnis, durch den Austausch
des Organs vollkommen behebbar zu sein. (vgl. Spirgatis 1997: 8) Des weiteren
ist für die Organverpflanzung der Tod eines Menschen die Voraussetzung
(außer bei der Lebendspende), womit der Mensch zur Ressource
der Lebensrettung eines anderen wird.
Die immanenten Konfliktpotentiale, die Vielzahl an Verschiebungen,
Umdeutungen und Neudefinitionen erfahren kaum eine angemessene Würdigung.
Vielmehr bewegen sich die Diskussionen auf der moralisierenden Ebene, wobei
die befürwortende Seite die Organverpflanzung als Akt der Nächstenliebe
und Ausdruck eines humanistischen Verständnisses rechtfertigt, die
kritische Seite sich hingegen auf die Menschenwürde des Sterbenden
beruft.
Ausgeblendet werden dabei die der Transplantationsmedizin zugrundeliegenden
Machtstrukturen, das sich als wahr und objektiv präsentierende
Wissen und die beteiligten Akteure und Akteurinnen.
b) Andererseits benötigt die Transplantationsmedizin, will sie
als standardisiertes medizinisches Verfahren angenommen werden, die Unterstützung
ihrer eigenen Klientel. Anders als andere medizinische Praktiken ist die
Organverpflanzung auf die freiwillige Unterstützung "altruistisch
handelnder Akteure" (Feuerstein 1995: 13) angewiesen. So ist nicht nur
die Zustimmung seitens der potentiellen Spender und Empfänger
unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg des Verfahrens, auch ein
"positives" Verhalten seitens der klinischen, administrativen und politischen
Akteursgruppen ist notwendig. Wichtig ist an dieser Stelle, nach den Bedeutungszuschreibungen
zu fragen, die an das Subjekt der Transplantationsmedizin herangetragen
werden. Um die Konfliktfelder der Organverpflanzung weit zu umgehen, wird
in einer bestimmten Art und Weise über die Transplantationsmedizin
gesprochen: Technische Verfahren erhalten moralische Vorzeichen, die Explantation
wird zur christlichen Opfergabe mystifiziert. Der gesamte Vorgang
der Organübertragung ist mit symbolischen Deutungen eines sakralen
Humanismus belegt, die das Zurückweisen des Organbegehrens der
Transplantationsmedizin für das Subjekt unmöglich machen. Anne
Bergmann spricht in diesem Zusammenhang von einer "säkularisierten
Theologie" (Bergmann 1998: XI) der Organtransplantation, welche auf den
Begriff des freiwilligen Opfers zurückgreift, um sich einen beständig
wachsenden Bestand an Organressourcen zu sichern.
Beide Aufgabenstellungen zusammenfassend frage ich also nach den kontextuellen
Bedingungen der Transplantationsmedizin, die auf eine Okkupation des
Fleisches ausgerichtet ist, und nach der Konstituierung des Selbst,
nach den an den Menschen herangetragenen Sichtweisen seiner selbst, die
sein Fleisch und seinen Geist nach einem transplantationsmedizinischen
Abbild formen. Sichtweisen, die seine eigenen werden, und durch die er
sich eigenständig der Transplantationsmedizin zur Verfügung stellt.
Den Hintergrund meiner Analyse bildet der Logos des transplantationsmedizinischen
Diskurses, unter den ich alle Redeweisen, Botschaften und Aussagen fasse,
die zur Transplantationsmedizin veräußert werden. Die Inhalte
dieses Diskurses transportieren bestimmte Auffassungen, Motive und argumentative
Figuren. Konstrukte, die sich an Individuen richten und bestimmte Interessen
verfolgen. Ziel ist es, den strategischen Inhalt des transplantationsmedizinischen
Diskurses zu kennzeichnen, seine Funktionsweise aufzuzeigen und die dahinterstehenden
Machtverhältnisse offenzulegen.
Buch: | ISBN 3-932174-84-4 | 14,98 Euro |
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